Bärbel Schrader: „Entwicklungsprobleme des Arbeitertheaters in der Deutschen Demokratischen Republik“ von 1977 – Eine Betrachtung.

Es ist das Verdienst der Theaterwissenschaftlerin Bärbel Schrader, die erste wissenschaftliche Arbeit zum nichtprofessionellen Theater in der DDR 1977 vorgelegt zu haben. In der Dissertation, abgelegt an der Humboldt-Universität zu Berlin, beschäftigt sich die Autorin hauptsächlich mit Problemen des Arbeitertheater von 1958 bis 1975, wirft aber gleichzeitig auf die Entwicklung des Laientheater und der kulturpolitischen Gegebenheit der Nachkriegszeit in der DDR bis 1975 einen Blick und zeigt auf, wo sie die Wurzel dieser Freizeitkultur sieht.

Die Dissertation, Gesamtumfang 372 Schreibmaschinen-Seiten, ist in zwei Kapitel gegliedert, wobei das Hauptthema mit 56 Prozent des reinen Fachtextes im II. Kapitel abgehandelt wird. Die Arbeit ist keine chronologisch-historische Betrachtung, eher schon eine Art Streitschrift oder Polemik, die Problemfelder benennt und Antworten sucht, bzw. Entwicklungsetappen aufzeigt, analysiert und kommentiert. Dabei werden verschiedene Positionen gegenübergestellt, Praxisbeispiele angefügt, Meinungen, Standpunkte, Fachtexte und Erlebnisberichte Beteiligten sowie Texte von Kulturfunktionären, Politikern und Wissenschaftlern wiedergegeben. Genaugenommen aber scheint sich die Autorin nicht so richtig entschieden zu haben, wohin sie mit dieser Arbeit wollte.

Eingegangen wird kurz auf die Entstehungsgeschichte und auf das 1. Arbeitertheater 1958 und auf die einzelnen Entwicklungsetappen dieses „Neuen Bühnentyps“. Sie reichen von der Vorstellung zur Ablösung des Berufstheater, der Aufgaben des Arbeitertheaters bei der Herausbildung der soz. Nationalkultur, dessen Unterstützung bei der Befriedigung der kulturellen Bedürfnisse und der politisch, ideologischen Bildung und Erziehung der Werktätigen bis zur Entwicklung eines sinnvollen Freizeitverhaltens. Die wechselhaften, teils widersprechenden Aufgaben und Positionen zur Volkskunst und dem Laientheater im Speziellen werden mit Texten und Beschlüssen der Führung der DDR und der Kulturpolitiker belegt sowie teils kommentiert und dabei, aus der Sicht der Autorin, auf vergangene Fehlentwicklungen hingewiesen.

Schrader bevorzugte bei der Behandlung der einzelne Themenfelder ein komplexes Herangehen, dessen Ausgangspunkt immer die konkrete gesellschaftliche Situation und die sich daraus ergebenen politischen Anforderungen für die kulturelle Entwicklung darstellt. Einen besonders breiten Raum gibt Bärbel Schrader der theoretischen  Erörterung der Position des Arbeitertheater in der Gesellschaft und innerhalb der Laientheaterbewegung, wobei sie sich besonders den Beiträgen von Horst Schnabel, Kulturpolitischer Mitarbeiter der Gewerkschaft, und H. Konrad Hoerning, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für  Volkskunstforschung am Zentralhaus für Kulturarbeit der DDR, widmete. Auch mit der fachlichen Führungseinrichtung für die Laienkunst, dem Zentralhaus für Kulturarbeit, nachgeordnete Behörde des Ministeriums für Kultur, sowie den Arbeiterfestspielen beschäftigt sich die Dissertation ausführlich.

Auch wenn sich nicht nur die Arbeitertheater vorzugsweise der Gegenwartsdramatik zuwandten, bedeutete dies nicht, daß sie auch immer die gewünschten Thematiken auf die Bühne brachten. Deshalb übte die kulturpolitische Führung in nachdrücklicher Weisen Einfluß auf das Repertoire der Theater aus, die keinesfalls nur als Anregungen, wie Schrader angibt, zu verstehen waren.

Andererseits werden Vorgängen, besonders die praktische Arbeit an der Basis betreffend, mitunter nur nummerisch aufgelistet, die eine Vertiefung verdient hätten, wie z. B. die nicht reflektierte breite und langandauernde Diskussion um Stück und Inszenierung Das Mädchen Anna von Horst Schnabel, die Schrader zu den Inszenierungen zählte, die „auf den Arbeiterfestspielen eine beachtliche Rolle“ spielten.

Auch zeigt die Arbeit eine ganze Reihe von Ungenauigkeiten, die evtl. noch mit dem anfänglichen Hinweise auf eine schlechte Quellenlage und daraus resultierenden verstärkten eigenen Interpretationen zu rechtfertigen sind. Die theoretischen Ableitungen und Schlußfolgerungen wurden allerdings nicht immer an der Praxis überprüft, so daß sie teilweise konstruiert erscheinen oder doch zu mindestens einen eigenen Umgang mit Fakten offenbaren. Auch kann man sich des Eindruckes nicht erwehren, daß bestimmte Thesen nicht nach allen Seiten hin untersucht wurden und so mitunter unschlüssige Bewertungen entstanden, was freilich schon in der Einleitung angekündigt wurde. Die vorhandenen umfangreichen Zitate der Klassiker des Marxismus-Leninismus sind fraglos mit der kulturpolitischen Situation jener Zeit zu erklären.

Letztlich läuft die Dissertation darauf hinaus, die Volkskunst und das Arbeitertheater im Besondern als ein Bestandteil der  ideologischen und kulturell-künstlerischen Bildungsarbeit zur Erziehung des sozialistischen Menschen in der DDR darzustellen. Arbeitertheater hatte damals den Auftrag, das sozialistische Theater in der DDR mit durchzusetzen.

Vor diesem Hintergrund folgt die Autorin verständlicherweise, trotz vielfacher kritischer Positionen zu einzelnen Erscheinungen der Entwicklung des Laientheaters, dem offiziellem kulturpolitischen Ansatz der 1970er Jahre und hoffte aber mit ihrer Arbeit einen Beitrag „zur Diskussion um“ die damaligen „Entwicklungsfragen“ des Arbeitertheaters leisten zu können, die aber eigentlich Fragen der Kulturpolitik und weniger die der praktischen künstlerischen Arbeit an der Basis waren.

Karl Uwe Baum 11/2024